Zahlreiche Projekte gegen Antisemitismus stehen vor dem Aus - Initiativen und Experten fordern verlässliche Demokratieförderung

Berlin, 30.10.2019

In Berlin appellierten heute Vertreterinnen verschiedener Projekte gegen Antisemitismus und Experten an die Politik, die Präventionsarbeit gegen Antisemitismus verstärkt zu fördern.

Vom Bundesprogramm „Demokratie leben!“ beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erhielten zahlreiche Träger, die in der Vergangenheit Projekte gegen Antisemitismus durchgeführt haben, in den letzten Wochen die Nachricht, dass sie in der kommenden Förderperiode nicht berücksichtigt werden. Hinzu kommt eine geplante Umschichtung innerhalb des Programms.

Nach diesen Umstrukturierungen und Kürzungen stehen zahlreiche bewährte und erfolgreiche Demokratieprojekte nun vor dem Aus. Dies gilt insbesondere für Modell-Projekte aus der Zivilgesellschaft, darunter auch solche gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus, die in den vergangen Jahren erfolgreich und breitenwirksam gearbeitet haben.

Diese Kürzungen finden statt vor dem Hintergrund alarmierender Entwicklungen. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Dr. Felix Klein, sprach vergangene Woche von einem "neuen Höhepunkt" des Antisemitismus in Deutschland. Zuletzt griff ein rechtsextremer Bewaffneter eine Synagoge in Halle/Saale an und tötete anschließend zwei Menschen, zwei weitere wurden schwer verletzt. Neue Umfrageergebnisse des World Jewish Congress zeigen, dass jeder vierte Deutsche tiefsitzende antisemitische Einstellungen hegt. In Thüringen gehen die AfD und ihr rechtsextremer „Flügel“ gestärkt aus den Landtagswahlen hervor, ebenso wie in Brandenburg und Sachsen. Unter Anhänger*innen, Wähler*innen und Mitgliedern sowie Politiker*innen der AfD ist Antisemitismus erschreckend weit verbreitet, wie u.a. die diesjährige „Mitte“-Studie der Universität Bielefeld zeigen konnte.

Ulrike Becker vom Projekt „Bildungsbaustein Israel“ des Mideast Freedom Forum Berlin, sagt: „Die präventive Arbeit im Bildungsbereich gegen Antisemitismus ist besonders wichtig. Durch Kürzungen von Geldern gerade für Modellprojekte gegen Antisemitismus geht die wertvolle, breitenwirksame und erfolgreiche Arbeit von zivilgesellschaftlichen Projekten gegen Antisemitismus verloren, die in den letzten Jahren in die Gesellschaft hineinwirken konnten. Die betroffenen Projekte müssen geplante Seminare und Anfragen absagen, der Aufbau von Expertise und Netzwerken aus fünf Jahren Arbeit bricht weg. Die Arbeit gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus braucht Kontinuität und Erfahrung. Wir fordern, dass erfolgreiche Modell-Projekte bevorzugt weiter gefördert werden.“

Prof. Dr. Samuel Salzborn, Rechtsextremismus- und Antisemitismusforscher an der Universität Gießen, erklärt: „Aus Sicht der Forschung muss Antisemitismus je nach Zielgruppe in einer Mischung aus Prävention, Intervention und Repression bekämpft werden. Bildungsprojekte gegen Antisemitismus sind dabei unverzichtbarer denn je, gerade vor dem Hintergrund dessen, dass sich Antisemitismus in allen politischen Milieus findet. Besonders dem antiisraelischen Antisemitismus muss eine hohe Aufmerksamkeit zuteilwerden, weil er als Bindeideologie zwischen den politischen Spektren fungiert. Und diese Arbeit muss endlich in Regelförderstrukturen überführt und langfristig finanziert werden, nur so kann Bildungsarbeit gegen Antisemitismus wirklich erfolgreich sein."

Anetta Kahane, Vorstandsvorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, sagt: „Die Bundeskanzlerin hat anlässlich ihrer Ehrung mit dem Theodor-Herzl-Preis durch den Jüdischen Weltkongress verstärktes Engagement gegen Antisemitismus versprochen. Wenn diese Worte ernst gemeint sind, müssen Projekte, die im Feld arbeiten, ermutigt und dauerhaft gefördert werden statt Mittel gekürzt zu bekommen. Hier ist die gesamte Regierungskoalition in die Verantwortung zu nehmen. Antisemitismus hat viele Facetten und findet sich in allen sozialen und ethnischen Gruppen. Notwendigerweise muss gerade die Arbeit gegen Rechtsextremismus sich auch gegen Antisemitismus richten – denn es gibt keine Rechtsextremen, die nicht auch Antisemiten wären.“

Lala Süsskind, Jüdisches Bildungswerk für Demokratie und gegen Antisemitismus: „Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ist der Lackmustest für die freiheitliche Demokratie in Deutschland nach der Shoah. Es ist eine politische Bildungsarbeit notwendig, in der auch der positive Beitrag des Judentums zur Entwicklung des aufgeklärten Humanismus, der Bürger- und Menschenrechte sowie der freiheitlichen Demokratie vorkommt. Gerade in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus sollten Jüdinnen und Juden nicht nur als Opfer vorkommen, sondern als Akteure und Kooperationspartner für Schulen und andere Bildungseinrichtungen aktiviert und vernetzt werden. Dies sind die zentralen Ziele des von uns konzipierten Projektes ‚Tikkun – Wertebildung und Kompetenzförderung: Für Menschenwürde und Demokratie.‘“

Seyran Ates, Geschäftsführerin der Ibn Rushd Goethe Moschee, erklärt dazu: „Die Ibn Rushd-Goethe Moschee engagiert sich seit ihrer Gründung gegen Antisemitismus und dabei ist immer wieder auffallend, wie stark antisemitische Narrative und Ressentiments auch innerhalb der muslimischen Community verankert sind. Dies hat sich seit 2015 noch einmal verschärft. Es ist fatal, nun in diesem Bereich die Mittel zu kürzen, statt diese aufzustocken. Unsere Antisemitismusarbeit steht mit dem Ablehnungsbescheid aus dem Bundesministerium vor dem Aus.“

Zum Hintergrund

: Im Zuge des diesjährigen Interessenbekundungsverfahren des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erhielten hunderte Träger, die entweder seit Jahren erfolgreich Projekte durchführen oder innovative Vorschläge eingereicht haben, Absagen für finanzielle Förderung. Nach Kritik und Protesten sind geplante Gesamtkürzungen des Programms „Demokratie Leben!“ inzwischen zurückgenommen worden. Problematisch ist eine geplante Umschichtung innerhalb des Programms. Vorgesehen ist lediglich noch die Förderung von ca. 100 Modellprojekten, bislang waren es mehr als doppelt so viele. Mehr als 140 Organisationen appellierten deshalb an die Politik, eine Aufstockung des Programms „Demokratie Leben“ auf mindestens 200 Millionen Euro pro Jahr vorzunehmen. Vgl. www.demokratie-mobilisieren.de